Das Erzfräulein
Am rechten Ufer der Isar erhebt sich das mächtige Karwendelgebirge. An seinem Fuße befindet sich eine tiefe Schlucht, die Erzgrube genannt. An einem Vorsprung derselben stand, wie die Sage geht, vor alten Zeiten eine Ritterburg. Ihr Besitzer hauste unzählige Schätze in den tiefen Gewölben der Bergfeste, aber sie waren nicht in gerechter Weise erworben. Durch Mittenwald nämlich und kaum eine Viertelstunde von der Burg zog sich die uralte Handelsstraße aus Venedig und Italien nach Deutschland. Mancher Kaufmann, ging er nicht unter sicherem und starkem Geleite, wurde nieder geworfen und samt seiner reichen Habe auf das Schloss nach Karwendel geschleppt. Hier wurde er in harter Gefangenschaft gehalten, bis er großes Lösegeld bezahlte. So häufte sich der übel erworbene Reichtum in des Ritters eisernen Kästen, die mit Gold und Silber, mit Edelsteinen und reichem Geschmeide angefüllt waren. – Der Ritter hatte ein einziges Kind, eine bildschöne Tochter, die er sehr liebte, Aber noch mehr als sein Kind liebte er seine Schätze, bei welchen er oft ganze Nächte zu brachte, seine Augen an dem Glanze derselben weidend. Als seine Tochter heran wuchs, stellten sich viele Freier ein, aber der Vater zögerte immer und wollte ihre Hand nicht vergeben, aus Furcht, er müsste damit auch einen Teil seiner Schätze hingeben. Da begab es sich, dass die Jungfrau siech wurde und Todes verblich. Bei dem Anblick der Leiche verfluchte der Ritter sein Schicksal, in fürchterliche Gotteslästerungen ausbrechend. Aber des Himmelsstrafe ereilte den ruhelosen Menschen auf der Stelle. Die Erde erbebte und öffnete sich, den Ritter samt dem Schlosse mit seinen Schätzen und samt dem Leichnam seiner Tochter in ihrem Abgrund begrabend. Zur Strafe für sein gottloses Leben und seinen grenzenlosen Geiz wurde er in einen Drachen verwandelt. Als solcher hütet er seine in den Abgrund versunkenen Schätze und die Leiche seiner Tochter, deren Anblick seinen Schmerz und seine Wut stets von Neuem erregt. Manchmal erscheint ihre Gestalt über dem Abgrund, auf dem Gesteine der Erzgrube sitzend. Ihre Gestalt ist schön, ihre Haltung aber und ihre Gebärden zeugen von großer Traurigkeit. Sie erscheint in altdeutscher Tracht und trägt einen strahlenden. Gürtel und an einer langen goldenen Kette ein Täschchen, wie es die Rittersfrauen zu tragen pflegten. Gar Mancher hat sie also gesehen; am liebsten aber erscheint sie Knaben und Mädchen, die sich ein reines Herz bewahrt haben. Wenn sie eines Menschen ansichtig wird, so winkt sie mit flehender Gebärde, ihr zu folgen und sie zu erlösen, um den Preis der verschütteten Schätze. Mancher ist ihr schon gefolgt in den tiefen Schacht, der vor ihr sich auftat, aber Keiner hat sie erlöst, und Keiner vermochte den Schatz zu heben. Der Anblick des grimmen Drachen, der dem Eintretenden Rauch, Feuer und Flammen entgegen sprüht, hat noch Alle zurück geschreckt, die das Wagnis unternahmen. Nur der kann die Jungfrau erlösen und den Schatz erheben, der furchtlosen Herzens, schweigend, betend und wohl gesegnet durch die versengende Glut hindurch zu schreiten und den Bann zu lösen vermag. Und so kommt es denn, dass das Erzfräulein, oder wie es in der Volksmundart heißt, „das Arzfräule“ noch immer sich zeigt und seiner Erlösung entgegen harrt, der Schatz aber ungehoben im Eingeweide der Erde liegt.